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Adipositas und Metabolisches Syndrom

Ein großer Teil der Krankheitslast in der Bevölkerung ist auf die vielfältigen Folgeerkrankungen des Metabolischen Syndroms zurückzuführen. Zum Metabolischen Syndrom gehören verschiedene Risikofaktoren beziehungsweise Symptome. Das erste erkennbare Symptom ist häufig krankhaftes Übergewicht (Adipositas). Im Verlauf kommen Bluthochdruck sowie erhöhte Blutzucker- und Blutfettwerte hinzu. Betroffene Personen haben ein erheblich erhöhtes Risiko für die Entwicklung verschiedener Zivilisationserkrankungen wie Typ 2 Diabetes, Herzinfarkt, Schlaganfall, degenerative Skeletterkrankungen und auch für verschiedene Krebserkrankungen (wie zum Beispiel Darmkrebs und Brustkrebs).

Die Häufigkeit der ambulanten Behandlungsdiagnosen in Nordrhein-Westfalen aufgrund von Bluthochdruck und Typ 2 Diabetes nimmt im Zeitverlauf zu (siehe Abbildung 1). Gleiches gilt für die Adipositasrate (ermittelt durch Bevölkerungsbefragungen). Nur die Behandlungshäufigkeit von Fettstoffwechselstörungen ist seit 2006 annähernd stabil geblieben. Besonders deutlich ist der prozentuale Anstieg des Typ 2 Diabetes (Frauen plus 29 %, Männer plus 32 %) und der Adipositas (Frauen plus 44 %; Männer plus 50 %) im Vergleich zum Ausgangswert erkennbar.

Grafik zur Entwicklung der ambulanten Behandlungshäufigkeit von Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörung, Typ 2 Diabetes und Adipositas von 2006 bis 201
Abbildung 1: Amb. Behandlungshäufigkeit (altersstand.) Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörung, Typ 2 Diabetes, Alter 20 plus; Adipositas (NRW-Gesundheitssurvey), Alter 18 plus, nach Geschlecht, NRW, 2006-2015. KV Nordrhein u. Westfalen-Lippe, LZG.NRW

Nach heutigen Erkenntnissen wird der Grundstein für die Entwicklung des Metabolischen Syndroms bereits in der Schwangerschaft gelegt, wenn es in dieser sensiblen Lebensphase entweder zu einer deutlichen Überversorgung an Nährstoffen (zum Beispiel durch einen Schwangerschaftsdiabetes) oder zu einer Mangelversorgung (zum Beispiel durch Rauchen) kommt. Der kindliche Stoffwechsel erfährt dann eine Fehlprogrammierung, die unter anderem das Verlangen nach zucker- und fettreichen Nahrungsmitteln verstärkt und die Anlagerung von Depotfett in der Bauchregion (viszerales Fettgewebe) begünstigen kann [Ross & Desai 2013].

Im Säuglings- und Kleinkindalter beeinträchtigen Flaschennahrung, Fertigprodukte und zuckerhaltige Getränke das Erlernen gesunder Geschmacksvorlieben. Durch das Aufwachsen in einer Umgebung mit reduzierten Bewegungsmöglichkeiten und -anreizen kann zusätzlich bereits in früher Kindheit die Basis für einen inaktiven Lebensstil gelegt werden. Im Verlauf der Schulzeit spielen Stressbelastungen, nicht selten in Kombination mit Schlafstörungen bzw. Schlafdefiziten, ebenfalls eine wichtige Rolle für die Entwicklung des Metabolischen Syndroms. Negativer Stress (Dysstress) entsteht, wenn die individuellen Stressbewältigungskompetenzen zur Kompensation äußerer Stressoren der familiären und schulischen Umwelt nicht ausreichen. Insbesondere kohlenhydrat- und fettreiche Speisen dienen dann oft einerseits zur Beruhigung und andererseits als Versuch, Phasen der Müdigkeit zu überwinden. Es entsteht ein Teufelskreis aus Überernährung, Übergewicht, Bewegungsunlust (häufig in Kombination mit ausgeprägtem Medienkonsum) und schlechtem Schlaf, der im Zeitverlauf immer schwerer zu durchbrechen ist [Greer et al. 2013].

Zum Zeitpunkt der Einschulung waren 2016 10,4 % der Kinder in Nordrhein-Westfalen übergewichtig oder adipös.

Gesundheitsindikator 4.9: Body Mass Index (BMI) bei Kindern zum Zeitpunkt der Schuleingangsuntersuchung nach  Geschlecht, NRW

Laut KiGGS Welle 1 erhöht sich der Anteil bei Jugendlichen im Alter von 11 bis 17 Jahren auf knapp 19 % [Brettschneider et al. 2015]. Übergewichtige Kinder und Jugendliche weisen bereits zu einem bedenklichen Anteil weitere kardiovaskuläre Risikofaktoren auf. In einer Beobachtungsstudie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung [Flechtner-Mors et al. 2011] hatten unter den untersuchten übergewichtigen und zum Teil extrem adipösen 8- bis 17-Jährigen bereits 35 % erhöhte Blutdruckwerte und 13 % erhöhte LDL-Cholesterinwerte.

Nach der Pubertät steigt der Anteil an Übergewichtigen und Adipösen (BMI ≥ 25) weiter an [Mensink et al. 2013]. Als Begleiterscheinung kumulieren bei vielen Erwachsenen die Risikofaktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen im weiteren Verlauf des Lebens. Auch hier spielen wieder ungünstige Rückkopplungsprozesse eine Rolle. Je länger zum Beispiel der Bewegungsapparat durch zu viel Gewicht und eine ungünstige Verteilung des Körperfetts belastet wird, desto höher ist das Risiko für Schmerzen und Bewegungseinschränkungen und desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit für die Aufnahme sportlicher Aktivitäten, womit wiederum die Wahrscheinlichkeit für eine weitere Gewichtszunahme steigt [Becker 2011]. Hinzu kommt, dass medizinische Interventionen sehr häufig auf einzelne Symptome ausgerichtet sind, was die Notwendigkeit einer Inangriffnahme der zugrundeliegenden Gesamtproblematik in den Hintergrund treten lässt.

Die primäre genetische Ausgangslange spielt dabei ursächlich nur eine untergeordnete Rolle. Zwar konnten mittlerweile zahlreiche Genvarianten identifiziert werden, die auf unterschiedliche Weise das Risiko einer Adipositasentwicklung beeinflussen können, aber ob und in welchem Umfang sie ihre Wirkung entfalten, hängt ganz erheblich von Umgebungsfaktoren ab. Die familiäre Häufung der Adipositas ist vor allem auf soziale und epigenetische Vererbung, das heißt auf die Übernahme elterlicher Verhaltensweisen und die Weitergabe erworbener Genveränderungen (epigenetischer Merkmale) über das Erbgut an die nachfolgenden Generationen zurückzuführen [Kelishadi & Poursafa 2014, Haire-Joshu & Tabak 2016].

Für Nordrhein-Westfalen stehen zur Abschätzung der Häufigkeit von Adipositas bei Erwachsenen Daten aus verschiedenen Bevölkerungsbefragungen zur Verfügung. Diese basieren auf Selbstangaben zur Körpergröße und zum Körpergewicht. Nach Datenlage des Mikrozensus 2013 hätten 15 % der Frauen und 18 % der Männer einen BMI ≥ 30 und wären somit adipös. Im NRW-Gesundheitssurvey 2015 wurde für Frauen eine Adipositasprävalenz von 15 % und für Männer von 21 % ermittelt.

Gesundheitsindikator 4.8_01: Body Mass Index (BMI) der erwachsenen Bevölkerung nach Alter und Geschlecht, Mikrozensus, NRW

Gesundheitsindikator 4.8: Body Mass Index (BMI) der erwachsenen Bevölkerung nach Alter, Sozialstatus und Geschlecht, Survey, NRW

In der RKI-Studie zur Gesundheit von Erwachsenen in Deutschland (DEGS) zeigen sich hingegen besonders bei den Frauen deutlich höhere Adipositasprävalenzen. In dieser Studie waren 24 % der Frauen und 23 % der Männer adipös [Mensink et al. 2013]. Diese Daten wurden durch standardisierte Messungen der Körpergröße und des Körpergewichts gewonnen. Sie geben daher auch für Nordrhein-Westfalen ein realistischeres Bild zur Einschätzung der Verbreitung von Adipositas als befragungsbasierte Daten. Alle genannten Untersuchungen zeigen, dass bei Frauen die Adipositasrate stärker schicht- und altersabhängig ist als bei Männern.

Die Häufigkeit von Übergewicht (BMI 25,0 bis 29,9) bei Erwachsenen scheint in Deutschland auf hohem Niveau zu stagnieren. Allerdings hat die Adipositashäufigkeit (BMI ≥ 30) seit dem Bundesgesundheitssurvey 1998 zugenommen - und zwar insbesondere in der Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen (mit einem stärkeren Anstieg bei den Männern als bei den Frauen) [Mensink et al. 2013; Finger et al. 2016].

Moderates Übergewicht stellt nach heutigen Erkenntnissen kein gravierendes gesundheitliches Problem dar, wenn keine weiteren Risikofaktoren vorliegen. Speziell eine bauchfettbetonte Adipositas (Bauchumfang ≥ 100 cm bei Frauen beziehungsweise ≥ 115 cm bei Männern) führt jedoch langfristig zu Stoffwechselveränderungen, die für sich genommen zusätzliche Risiken darstellen. Außerdem begünstigen die Faktoren, die einer Adipositasentwicklung Vorschub leisten, auch die Entwicklung weiterer gesundheitlicher Risiken. Neben den bereits genannten körperlichen Erkrankungen ist Adipositas häufig auch mit psychischen Begleiterkrankungen (zum Beispiel Depressionen) verbunden. Das häufige Vorkommen von Adipositas, Bluthochdruck, erhöhten Blutfettwerten und erhöhten Blutzuckerwerten (bzw. einem manifesten Diabetes Typ 2) bereits in jüngerem Lebensalter lässt eine Zunahme der Folgeerkrankungen des Metabolischen Syndroms erwarten. Diese Entwicklung wird sich zukünftig mit hoher Wahrscheinlichkeit auch auf die Zahl der Pflegebedürftigen auswirken. Zur Herbeiführung einer Trendwende in Bezug auf die ansteigende Gesamtmorbidität wäre es daher unter anderem notwendig, den Trend zu einem weiteren Anstieg des Metabolischen Syndroms zu stoppen, ohne dass es dabei zu einer (weiteren) Stigmatisierung der Erkrankten kommt.

Dokumentation der schulärztlichen Eingangsuntersuchungen. Landeszentrum Gesundheit NRW (LZG.NRW).

Fortschreibung des Bevölkerungsstandes. Landesbetrieb Information und Technik Nordrhein-Westfalen (IT.NRW).

Mikrozensus, Zusatzerhebung 2013. Landesbetrieb Information und Technik (IT.NRW).

NRW-Gesundheitssurvey 2007, 2009, 2011, 2013, 2015. Landeszentrum Gesundheit NRW (LZG.NRW).

Statistik der ambulanten Behandlungsdiagnosen. KV Nordrhein und KV Westfalen-Lippe.

Becker S: Der Einfluss der Gesundheitszufriedenheit auf die Sportaktivität. SOEP Papers, 400-2011. Berlin: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) (Hrsg.) 2011.

Brettschneider AK, Schaffrath Rosario A, Kuhnert R, et al.: Updated prevalence rates of overweight and obesity in 11- to 17-year-old adolescents in Germany. Results from the telephone-based KiGGS Wave 1 after correction for bias in self-reports. BMC Public Health. 15 (2015), Nr. 1101, S. 1-9.

Finger JD, Busch MA, Du Y, et al.: Zeitliche Trends kardiometaboler Risikofaktoren bei Erwachsenen. Deutsches Ärzteblatt. 113 (2016), Nr. 42, S. 712-719.

Flechtner-Mors M, Thamm M, Schaffrath-Rosario A, et al.: Hypertonie, Dyslipoproteinämie und BMI-Kategorie charakterisieren das kardiovaskuläre Risiko bei übergewichtigen oder adipösen Kindern und Jugendlichen: Daten der BZgA-Beobachtungsstudie (EvAKuJ-Projekt) und der KiGGS-Studie. Klinische Pädiatrie. 223 (2011), Nr. 7, S. 445-449.

Greer SM, Goldstein AN, Walker MP: The impact of sleep deprivation on food desire in the human brain. Nature Communications. 4 (2013), S. 2259.

Haire-Joshu D, Tabak R: Preventing Obesity Across Generations: Evidence for Early Life Intervention. Annu Rev Public Health. 37 (2016), S. 253-71.

Kelishadi R, Poursafa P: A Review on the Genetic, Environmental, and Lifestyle Aspects of the Early-Life Origins of Cardiovascular Disease. Current Problems in Pediatric and Adolescent Health Care. 44 (2014), Nr. 3, S. 54-72.

Mensink GBM, Schienkiewitz A, Haftenberger M et al.: Übergewicht und Adipositas in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz. 56 (2013), S. 786-794.

Ross MG, Desai M: Developmental programming of offspring obesity, adipogenesis, and appetite. Clinical Obstetrics and Gynecology. 56 (2013), S. 529-36.